Den Januar, liebe Frauen, den gesamten Februar und die ersten beiden Wochen im März haben Sie umsonst gearbeitet. Sie sind Tag für Tag ins Büro gekommen, haben den Schnee fallen und tauen sehen und die ersten Blumen des Frühlings aus der Erde brechen, und jetzt erst bekommen auch Sie endlich Geld für Ihre Arbeit.
Symbolisch gesehen zumindest. An diesem Sonntag ist der Equal Pay Day, ein Aktionstag, der auf eine immer noch gewaltige Lohnlücke zwischen den Geschlechtern aufmerksam machen will. Im Durchschnitt verdienen Frauen 21 Prozent weniger als Männer, auf Kalendertage umgerechnet heißt das: Männer werden in diesem Land von Tag eins des Jahres 2018 an bezahlt, Frauen erst ab heute.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung präsentierte kürzlich weitere Zahlen zum Gender Pay Gap, wonach die Kluft zwischen den Geschlechtern vor allem bei den extremen Einkommen auseinandergeht. Wo ohnehin wenig verdient wird, verdienen Frauen noch mal besonders wenig. Und wo viel verdient wird, verdienen Männer noch einmal deutlich mehr.
Lohnlücken zwischen Frauen und Männern, Alten und Jungen, Homo- und Heterosexuellen, Deutschstämmigen und Migranten
In Tagen ausgedrückt: Die oberen zehn Prozent der Frauen zum Beispiel müssen noch bis zum 27. März unentgeltlich ihrem Job nachgehen, ehe auch sie die Spitzengehälter ausgezahlt bekommen, derer sich ihre männlichen Kollegen schon seit Januar erfreuen können. Die ostdeutschen Frauen werden, nimmt man die DIW-Zahlen, bereits seit dem 27. Januar genauso bezahlt wie die ostdeutschen Männer, und die weiblichen Unter-30-Jährigen bekommen seit dem 18. Januar das Geld ihrer männlichen Altersgenossen, während die älteren länger gratis arbeiten müssen. Und so weiter, und so weiter.
Dazu kommen weitere Lohnlücken, etwa zwischen Alten und Jungen, Homo- und Heterosexuellen, Deutschstämmigen und Migranten, in verschiedener Form kombinierbar mit den bereits bekannten und in weitere Haupt- und Nebengedenktage übersetzbar. Der Kalender wäre ziemlich schnell sehr voll.
Es wäre ein Leichtes, das Anliegen des Equal Pay Day durch solche Rechenspiele zu relativieren und ins Lächerliche zu ziehen. Man sollte es nicht. Dass Männer und Frauen so unterschiedlich verdienen, ist ein Problem. Aber die vielen potenziellen Gedenktage der Ungleichheit sollten uns gemahnen, grundsätzlicher darüber nachzudenken. Viel zu oft tritt die Debatte über die Lohnlücke der Geschlechter auf der Stelle.
Wann ist unterschiedliche Bezahlung in Ordnung?
Das Dilemma offenbarte sich schon an dem Fall einer ZDF-Reporterin, die vor einigen Monaten gegen ihren Sender vor Gericht zog, weil sie weniger Geld als ihre männlichen Kollegen erhielt. Was tatsächlich stimmte. Trotzdem unterlag sie zunächst mit der Klage: Die schlechtere Bezahlung habe vor allem damit zu tun, dass sie als freie Mitarbeiterin für den Sender tätig war – die männlichen Kollegen, mit denen sie ihr Einkommen verglichen wissen wollte, aber festangestellt waren. Eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sei damit nicht festzustellen, urteilte das Berliner Arbeitsgericht im vergangenen Jahr. Aber selbst wenn nicht das Frausein die niedrige Bezahlung begründet, sondern allein der scheinbar diskriminierungsfreie Tatbestand des Vertragsrecht – macht es das besser? Unter welchen Umständen sind Unterschiede in der Bezahlung in Ordnung, unter welchen nicht? Zumindest die moralische Frage ist nach dem Verfahren ungelöster denn je.
Gleiches Geld für gleiche Aufgaben?
Die Lohnkluft zwischen Männern und Frauen lässt sich vor allem damit erklären, dass Frauen häufig andere und schlechter bezahlte Berufe ergreifen als Männer. Rechnet man solche Faktoren heraus, schmilzt der Abstand auf sechs, manchmal zwei Prozent – je nach Studie und Datenbasis. Manch einer gibt daher Entwarnung: Die Lohnlücke sei ein quasi natürliches Ergebnis unterschiedlicher Interessen und Karrierewege und damit als Gegenstand für Gerechtigkeitsdebatten ungeeignet. Gleiche Arbeit werde in den allermeisten Fällen tatsächlich gleich bezahlt. Nur machen Männer und Frauen eben oft nicht die gleiche Arbeit.
Sollten Pfleger und Müllmann nicht gleich viel verdienen – weil beide körperlich anstrengende Arbeit erledigen?
So einfach? Unter feministisch orientierten Arbeitsforscherinnen und Arbeitsforschern ist seit einiger Zeit auch in Deutschland ein Ansatz populär, um das Wegrechnen der Lohnlücke zu kontern: comparable worth. Vereinfacht gesagt heißt das: Es kommt nicht nur darauf an, dass gleiche Arbeit gleich bezahlt wird – wichtig ist bereits, dass vergleichbare Tätigkeiten gleich entlohnt werden. Wer als freie Mitarbeiterin Fernsehbeiträge dreht, dürfte demnach nicht schlechter bezahlt werden als ein Festangestellter, der einen ähnlichen Job macht. Wer bei der Müllabfuhr schwere Tonnen hebt, sollte für die körperliche Belastung nicht mehr Geld bekommen als diejenige, die sich in der Pflege den Rücken ruiniert.
Bewertungsunterschiede zwischen typischen Männer- und Frauenberufen offenzulegen, ist ehrenwert. Am Ende wirkt es aber doch, als stritten hier zwei Fraktionen an einem Schieberegler. Die einen drücken das Ausmaß der beklagenswerten Geschlechterungerechtigkeit herunter, die anderen berechnen Gleichwertigkeitskennzahlen, um den Regler wieder hochziehen zu können. Man versucht das Unbehagen zu objektivieren, um nicht in die Situation zu geraten, sich mit allzu revolutionären Forderungen zu blamieren. Ironischerweise sind es gerade die liberalen Kritiker dieses comparable-worth-Ansatzes, die allzu gut durchschauen, dass sich das Problem letztlich nur verlagert: Was sind denn die objektiven Kriterien, aus denen sich ein gerechter Lohn ableiten ließe? Wenn vergleichbare Arbeit gleich bezahlt werden soll – was genau ist dann unvergleichbar und sollte unterschiedlich bezahlt werden? Gibt es tatsächlich gute Gründe, die es rechtfertigen, der einen mehr Lohn zu geben als einem anderen? Auch die Bewertungsmaßstäbe beruhen letztlich auf Werturteilen. Das Unterfangen hat damit etwas Unabschließbares.
In mancher Diskussion wird es einem dann als Polemik entgegengeschlagen: Wer die Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen einebnen wolle, der müsse am Ende den Einheitslohn für alle verlangen. Es ist ein Totschlagargument, bei dem man nur noch betreten schweigen und alles zu einem Missverständnis erklären kann. Das ist dann der Endpunkt der Debatte. Dabei sollte sie da erst richtig losgehen.
»Warum sollten eigentlich diejenigen, die eine höhere Ausbildung abgeschlossen haben, auch noch mit mehr Geld belohnt werden?«
Bernd Kramer
Wenn man genau hinsieht, fallen viele der Begründungen für ungleiche Bezahlungen schnell in sich zusammen. Es heißt, eine längere Ausbildung soll auch einen höheren Lohn rechtfertigen. Ein Gender Pay Gap wäre vielleicht verwerflich, ein Qualification Pay Gap aber nur fair. Dabei führen schon jetzt gleichwertige Ausbildungen zu extrem unterschiedlichen Einkommen. Wer sechs Semester Informatik studiert, darf mit einem sehr viel höheren Gehalt rechnen als jemand, der sich an der Uni für soziale Arbeit einschreibt – eine Lohnlücke, die dem Ideal der Qualifikationsgerechtigkeit fundamental widerspricht, aber bislang erstaunlicherweise relativ klaglos hingenommen wird. Davon einmal abgesehen, ließe sich das Argument mühelos andersherum wenden: Da heißt es zum Beispiel gern, eine längere Ausbildung soll aufs Leben gerechnet auch einen höheren Lohn rechtfertigen. Akademikerinnen und Akademiker konnten das Privileg einer verlängerten Jugend genießen, machen häufig angenehmere Tätigkeiten als Niedrigqualifizierte, haben mehr Möglichkeiten, sich in ihrem Job selbst zu verwirklichen und darin Erfüllung zu finden. Würde das nicht eher für einen Abschlag auf der Gehaltsabrechnung sprechen?
Es heißt oft, die Bezahlung solle sich nicht am Geschlecht, vielleicht nicht einmal an lange zurückliegenden Studienabschlüssen orientieren – sondern allein an der Leistung. Wer sich anstrengt, darf mehr verdienen. Das klingt so plausibel, dass es selten hinterfragt wird. Dabei ist dieses Kriterium alles andere als trivial: In einer arbeitsteiligen Ökonomie, in der viele einen Beitrag zu einem Produkt leisten, ist am Ende kaum nachvollziehbar, von wem die größeren Anstrengungen ausgingen. Wessen Beitrag ist zum Beispiel bei der Herstellung eines Autos wichtiger? Der der Arbeiterin am Band? Des Managers? Seines Sekretärs, der den Terminplan im Auge behält? Der Reinigungskraft, die abends die Büros saugt? Das Leistungsargument klingt marktwirtschaftlich, aber ist letztlich das Gegenteil. Dem Markt ist Leistung vollkommen egal: Wer in zwei Stunden mühelos eine App programmieren kann, wird vielleicht mit Geld überhäuft. Wer in stundenlanger Kleinarbeit und hochkonzentriert Schuhe näht, kann am Ende des Monats vielleicht gerade so die Miete bezahlen. Erfolg auf dem Markt ist kein Indikator für Leistung, sondern lediglich für: Erfolg auf dem Markt. Und damit als Gerechtigkeitskriterium vollkommen tautologisch und ungeeignet.
Wie kann man Leistung sinnvoll messen?
Warum nutzen wir die Debatte um die Entgeltlücke zwischen den Geschlechtern also nicht als Einladung zu einem viel radikaleren Gedanken? Gernot Pflüger leitet eine Kommunikations- und Designagentur in Offenbach mit 24 Mitarbeitern. Lange, sagt er, habe er überlegt, nach welchen Kriterien er seine Leute bezahlen soll. "Ich habe kein System gefunden, wie man Leistung sinnvoll messen könnte", sagt Pflüger heute. "Die Leute sind extrem geschickt darin, so eine Messung auszutricksen." Würde die Managementliteratur etwa herausfinden, dass Mitarbeiter mit grünen Hüten auf dem Kopf produktiver sind und deswegen einen höheren Lohn bekommen sollten, würden nach einiger Zeit eben alle mit grünen Hüten zur Arbeit erscheinen, das Vergütungskriterium löst sich in Luft auf. Es ist, als wollte man nach Wolken greifen: Die Leistung ist kaum zu fassen.
Wenn freie Mitarbeiter mehr Geld bekommen – als Kompensation für die Unsicherheit
Pflüger entschied sich daher für einen anderen Weg: Seit gut 30 Jahren bezahlt er seinen Mitarbeitern nun einen Einheitslohn – ein Stück Sozialismus in einem Unternehmen, das sich als kapitalistisch durch und durch versteht. Ob alt oder jung, studiert oder nicht, Mann oder Frau – alle bekommen dasselbe Gehalt, Equal Pay auf die denkbar einfachste und radikalste Art. Nur freie Mitarbeiter, die projektweise für die Agentur arbeiten, bekommen einen Aufschlag – als Kompensation für die Unsicherheit jenseits der Festanstellung. Und Pflüger selbst erhält etwas mehr, weil er als Geschäftsführer mit seinem privaten Vermögen für den Erfolg der Firma haftet – ein Umstand, für den er sich allerdings auch immer wieder vor den Mitarbeitern rechtfertigen muss. "Der Einheitslohn widerspricht allem, was die Schulweisheit sagt, aber er ist das beste und gerechteste Vergütungssystem, das ich gefunden habe", sagt er.
Pflüger führt seine Agentur basisdemokratisch, seine Angestellten können so viel Urlaub nehmen, wie sie wollen, und entscheiden gemeinschaftlich über Einstellungen und Entlassungen. Und natürlich, auch der Einheitslohn, diese Idee, der irgendwie das Image des Realitätsfernen und Nichtmachbaren anhaftet, stand immer mal wieder zur Debatte. Alle sind gleich, aber sollten nicht manche doch gleicher sein?
Einige Kollegen zum Beispiel, erzählt Pflüger, seien irritiert gewesen, als die ersten Azubis in der Firma mit der Lehre fertig wurden und als Berufsanfänger plötzlich dasselbe verdienten wie alle. Gestern war jemand noch der Lehrling, den man Kaffee kochen schicken konnte, und heute tritt er den Kollegen als Gehaltsebenbürtiger gegenüber? Ging das nicht etwas schnell?
Im Plenum haben die Mitarbeiter durchgesetzt, dass der Einheitslohn nicht für Berufsanfänger gelten soll. Pflüger war dagegen. Er wurde überstimmt.
»Der Einheitslohn widerspricht allem, was die Schulweisheit sagt, aber er ist das beste und gerechteste Vergütungssystem, das ich gefunden habe.«
Gernot Pflüger, Leiter einer Kommunikations- und Designagentur
Es habe nicht lange gedauert, sagt Pflüger, da zeigte sich, dass die Niedrigerbezahlten auch weniger zu geben bereit waren, sich in Teammeetings nicht mehr so einbrachten wie zuvor, sich mit Ideen zurückhielten, weil weniger Gehalt auch weniger Wertschätzung signalisierte. Früher scheuten sich junge Kollegen nicht, es den älteren offen ins Gesicht zu sagen, wenn sich deren Konzeptpapiere lasen, als schreibe ein Kreissparkassendirektor über Hip-Hop. Plötzlich aber orientierten sie sich in ihrer Arbeit nicht mehr an Ideen, sondern an Hierarchiestufen. Irgendetwas stockte. "Nach einem halben Jahr ging das in eine völlig falsche Richtung", sagt Pflüger. "Die Ungleichheit war unproduktiv und effizienzkillend." Keine Viertelstunde saßen die Mitarbeiter zusammen, da war der Einheitslohn zurück. Einstimmig.
Würde der Einheitslohn auch jenseits einer kleinen Agentur funktionieren, in anderen Branchen, im ganzen Land? Pflüger ist überzeugt davon, und man sollte den Gedanken einmal wirken lassen.
Frauen müssen für die gleiche Arbeit genauso viel verdienen wie Männer – wer das sagt, weiß den Zuspruch aller Karrierefeministen auf seiner Seite. Alle Menschen sollten mit ihrer Arbeit das Gleiche verdienen – wer das formuliert, gerät dagegen unter Utopieverdacht. Und ja, es ist eine Utopie, in der Praxis stets unvollkommen, oft schwer umzusetzen, bestimmt nicht in jedem Einzelfall gerecht. Aber die Vorstellung, es ließen sich gerechte Gründe dafür finden, dem einen mehr und dem anderen weniger zu bezahlen, ist meistens vor allem eines: noch viel utopischer.
Zitiert aus: Zeit online Arbeit
Ein Kommentar von Bernd Kramer 18. März 2018, 15:11 Uhr